In der Ausgabe der Zeit vom 7. Mai 2015 findet sich auf Seite 3 der Hamburgbeilage ein Artikel, der einen kleinen Einblick in das Leben einer Schülerin aus unserer IVK 7/8 gewährt. Obwohl in dem Artikel einige Dinge nicht ganz richtig sind, handelt es sich doch um einen  lesenwerten Artikel, den wir mit freundlicher Genehmigung der Zeit  veröffentlichen.

Der erste Blick

Deutsche Freunde? Hat die 14-jährige Asma nicht. Junge Flüchtlinge haben es besonders schwer, Kontakt zu Gleichaltrigen zu knüpfen. Aber dann lernt Asma Sophie kennen.

von Charlotte Parnack

Erinnerungen an den ersten Tag: »Mein Name ist Asma. Ich bin 14 Jahre alt. Ich komme aus Syrien. Ich bin seit einem Jahr und zwei Monaten in Deutschland. Meine Schwester sagt immer: 14 Monate. Ich finde,  ›ein Jahr und zwei Monate‹ klingt nach mehr. Seit September gehe ich in die Schule, in eine internationale Vorbereitungsklasse. Da gibt es keine deutschen Kinder. Ich glaube, dass die deutschen Jugendlichen nett sind, aber ich kenne keine. Außer Sophie. Als ich Sophie das erste Mal sah, wusste ich gleich, dass sie deutsch ist.«

Was Asma an Sophie deutsch findet: Sie trägt enge Jeans. Sie ist sehr dünn. Sie ist pünktlich. Sie schaut Fremden direkt ins Gesicht. Sie spricht gut Deutsch.

»Ich wohne mit dem Rest meiner Familie in drei Containern in Rahlstedt. Vier meiner Geschwister konnten nicht mitkommen. Sie würden gerne, aber das Geld fehlt. Ich vermisse sie. Ich wünsche mir so sehr, dass sie nachkommen können. Ich habe so viel verloren. Die Container sind gelb, das ist eine fröhliche Farbe, sagt der Mann aus der Fahrradwerkstatt. Deshalb nennen die Leute diesen Ort Das Gelbe Dorf.«

Was Asma am meisten vermisst: die Cousinen. Die Freundinnen. Die Kirschbäume im Garten. Wanderungen in den Bergen. Ein eigenes Zimmer.

»Vor ein paar Wochen kam Sophie ins Gelbe Dorf. Sie ist sehr gut in der Schule, deshalb hilft sie einem Jungen bei den Hausaufgaben. Wir sind gleich alle zu ihr gelaufen, denn wir hatten noch nie mit einem deutschen Mädchen gesprochen. Sophie wurde ganz ernst. Ein paar Tage später kam sie wieder und fragte meine Eltern, ob ich bei einer Sache mitmachen dürfe, die sie KulturTeam nennt. Dafür muss man nichts tun außer zu einem Picknick kommen. Und sich mit einem Deutschen anfreunden. Mein Vater hat gesagt, ich soll selbst entscheiden, ob ich das will. Er war Richter in Syrien. Sophie ließ uns eine Nummer da. Bald habe ich ihr eine WhatsApp geschrieben.«

Erste WhatsApp: »Hey Sophie. Kultur Projekt für Flüchtlinge. Kann man neu finden Freunde und es macht so viel Spaß und z.b. zwei Personen treffen und machen was die wollen. Und es hilft zu sprechen für die neu in Deutschland sind.«

»Am Anfang habe ich in der Schule kein Wort verstanden. Ich habe eine Liste mit Vokabeln bekommen und langsam Deutsch gelernt. Ich muss jeden Tag an meinem Deutsch arbeiten. Dann kann ich im Sommer an eine richtige Schule wechseln. Ich arbeite hart.«

WhatsApp-Wechsel: »Hallo Asma. Was hast du in der Woche gemacht? Wie waren deine tests?« – »Hallo Sophie. Ich weiß noch nicht meine Punkte, aber ich glaube in deutsch 1 und englisch 2«

»Ich möchte Architektin werden. Ich weiß, dass man dafür Abitur braucht. So wie Sophie. Sie macht gerade Prüfungen. Am Mittwoch schreibt sie Physik-Abitur. Am Freitag hat sie Zeit für ein Treffen.«

WhatsApp-Wechsel: »Hey Sophie. Ich habe eine Frage. Was sool ich machen wegen Freitag?« – »Du musst nichts machen.« – »soll« – »Du musst nichts vorbereiten. Du musst nur Zeit haben.«

»Am Freitag um drei klopft Sophie an unseren Container. Meine Mutter bittet alle rein. Sie kann kein Deutsch, nur ›Guten Tag‹ und ›Tschüss‹. Es fällt ihr schwer, die Sprache zu lernen, weil sie nicht lesen und nicht schreiben kann. Ihr fallen noch zwei Worte ein: ›Tee, Cola?‹ Aber wir wollen gleich los. Als wir gehen, fragt meine Mutter, ob Sophie uns helfen kann, eine richtige Wohnung zu finden. In einem richtigen Haus. Ich übersetze, denn ich weiß, dass es das gibt: Ganz wenige Flüchtlinge dürfen in private Häuser ziehen. Sie haben Platz und richtige Mauern und richtigen Teppich. Im Gelben Dorf wohnen 18 Familien. Heute sitzen viele draußen. Sie haben nichts zu tun. Wir schon. Wir laufen zum Bus. Nummer 9.«

Pläne für den Nachmittag: in ein Eiscafé nach Wandsbek fahren. Sophies Freundin Dena treffen. Zum Sport gehen. Eine Überraschung.

»Ein Mann im Bus trinkt Bier. Das mag ich nicht an Deutschland: dass Männer auf der Straße trinken. Das ist nicht höflich. Sophie fragt, wie es in der Schule war. Es war gut. In Syrien war ich die Beste in der Klasse. Wir haben dort keine Noten wie hier, man sammelt Punkte. Die höchste Punktzahl in einem Schuljahr ist 100. Ich hatte in den letzten beiden Jahren 100. Seit ich verstehe, was die Lehrerin sagt, bin ich auch in Hamburg sehr gut. Am besten kann ich rechnen. Aber ich weiß, dass ich leichtere Aufgaben kriege als deutsche Schüler, weil ich die Worte nicht kann. Sophie kann auch gut rechnen. Nach der Schule will sie in Oxford studieren, deshalb braucht sie ein gutes Abitur. Sie sagt, das sei in den Rankings eine der besten Universitäten der Welt. In Wandsbek steigen wir aus. Dort wartet Sophies Freundin Dena. Sie kann Arabisch. Sie übersetzt, was ich bis jetzt nicht verstanden habe.«

Worte, die Asma fehlen: Universität. Ranking. Fahrscheinkontrolle. Alkoholverbot. Schnürsenkel. Schüleraustausch.

»Im Café fragt Dena, ob es in Syrien auch Eis gibt. Komisch. Auf der Fahrt hat mich schon Sophie gefragt, ob es in Syrien U-Bahnen gibt. Warum denn nicht? Wir sind ganz normale Menschen. Wir kommen aus Idlib, das ist eine Stadt in den Bergen, bei Aleppo. Wir hatten ein großes Haus und einen Garten mit Kirschbäumen. Von meinem Fenster konnte ich die Türkei sehen. Am Wochenende sind wir wandern gegangen und haben gepicknickt. Neben unserem Haus haben Archäologen gegraben. Keiner von denen konnte Arabisch. Eine war Französin, wir haben ein Foto gemacht. Die Ausländer sind verschwunden, als der Krieg losging. Wir sind geblieben. Drei Jahre. Ich bin zur Schule gegangen, neben mir sind Bomben gefallen. Letzte Woche wurde das Haus meiner Großeltern zerstört. Alles kaputt. Sie waren zum Glück nicht zu Hause. Aber sie wollen nicht fliehen. Sie sagen: ›Das ist unser Land, warum sollen wir gehen? Wenn wir tot sind, ist das so.‹«

Orte, über die Asmas Familie verstreut ist: Eltern, zwei Brüder, eine Schwester – Rahlstedt, Gelbes Dorf. Eine Schwester, Großeltern – Idlib, Syrien, obdachlos. Ein Bruder – Damaskus, Syrien. Eine Schwester – Türkei. Ein Bruder – Bulgarien, Gefängnis, unschuldig, sagt seine Familie.

»Etwas Seltsames passiert: Hinter den Café tischen fassen sich erwachsene Menschen an die Schultern. Sie haben die Augen verbunden. Nur die Letzte sieht etwas. Wenn sie will, dass die Schlange nach links geht, klopft sie dem Mann vor ihr auf die linke Schulter. Er gibt das Klopfen weiter, bis nach vorne. Die erste Frau geht dann nach links, bis von hinten ein anderes Klopfen kommt. Sophie sagt, das sei ein Spiel. Und dass die Leute wahrscheinlich ein Fach studieren, das Sozialpädagogik heißt. Verrückt. Ich schaffe meinen Eisbecher nicht. Ich mag den Löffelbiskuit nicht. Wir müssen los. Wir fahren zu einer Sporthalle. Ich stelle mich in die Tür zu den Zuschauern. Am Anfang erschrecke ich mich, wenn die Mädchen Sprünge machen oder von einem Gerät fallen. Aber ich glaube, die Trainerin hat alles unter Kontrolle.«

Was die Trainerin ruft: »Hallo?! Das Trampolin ist tabu!«, »Sauber turnen, Leute!«, »Hallo?! Du musst die Füße auch mal unter deinen Körperschwerpunkt bekommen!«, »Und jetzt noch den Menichelli hinterher! Das machst du jetzt fünfmal!«, »Hallo?!«

»Die Mädchen tragen sehr enge Anzüge. Türkis-pink. Weinrot mit Vögeln. Schwarz mit Glitzer. Und sehr kurze Hosen. Es sind auch Jungs da. Einer zieht sein Hemd aus. Darunter ist er nackt. Er hängt sich kopfüber an zwei Ringe. Ich kenne das nur aus dem Fernsehen, in Syrien habe ich niemanden getroffen, der turnt. Meine Brüder waren früher in einer Fußballmannschaft. Jetzt machen sie keinen Sport mehr. Sie gehen zur Koranschule. Ich mache auch keinen Sport. Ich fand das schon in Syrien doof, dabei waren wir da nur Mädchen. In Hamburg ist der Sportunterricht gemischt. Die Jungs lachen über uns. Ich gucke beim Sport lieber zu. Ein Mädchen aus Sophies Turngruppe springt mit einem Salto auf einen Balken. Sie stößt sich fast den Kopf, aber sie merkt es nicht. Sophie sagt, das dürfe man ihr nicht sagen, sonst bekomme sie Angst und mache die Übung nie wieder.«

Wovor Asma Angst hat: die Turnhalle zu betreten. Das Trampolin auszuprobieren. Mäuse im Besucherraum. Nazis. Tod der Geschwister. Tod der Großeltern. Tod der Cousinen. Bomben.

»Sophie geht dreimal die Woche turnen. Und sie spielt Klavier. Sie hat viele Freunde. Ich glaube, sie hat viel Zeit für Hobbys, weil sie oft keine Hausaufgaben macht. In Syrien ist Schule strenger. Wenn einer grinst, sagt die Lehrerin: ›Was gibt es zu lachen?‹ In meiner Klasse in Hamburg schreien alle durcheinander. Unsere Lehrerin versteht Schimpfworte in vielen Sprachen. Sie ist nett. Nachmittags gibt sie uns Vokabellisten mit. Nach der Schule lerne ich. Ich schreibe Nachrichten mit meinem Handy. Ich bin meistens zu Hause, nur manchmal gehe ich in den Park. Ich habe ein HVV-Ticket, aber ich fahre nicht oft in die Stadt. Was soll ich da? Sophie fragt nach dem Training, ob ich Lust habe, in die Stadt zu fahren. Für eine Überraschung.

Stationen bis zur Überraschung: Lübecker Straße, Lohmühlenstraße, Hauptbahnhof Süd, Steinstraße, Meßberg, Jungfernstieg, Ausgang Alsteranleger.

»Wir steigen am Ufer der Alster aus. Es ist warm. Sophie zieht sofort ihre Jacke aus. Ich öffne einen Knopf meines Mantels. Im Wasser liegen weiß-rote Schiffe. Sophie fragt, ob ich Lust habe, Alsterdampfer zu fahren. Ich weiß nicht. Ich kann nicht schwimmen. Ich mag Wasser. Aber nur angucken. Wir setzen uns auf eine Bank und gucken die Alster an. Sophie erzählt von ihren Freunden. Und dass sie einen Freund hat. Einen festen. Die beiden wollen zusammen zum Studieren nach England. Ich weiß nicht, ob das gut ist. Deutsche Jugendliche tauschen oft ihre Partner. Ich möchte nie tauschen. Ich möchte nur einen Mann, für immer. Ich möchte heiraten und Kinder haben.

Wünsche, die Asma hat: alle deutschen Vokabeln lernen. Aufs Gymnasium gehen. In ein richtiges Haus ziehen. Architektin werden. Zurück nach Syrien dürfen. Frieden.

»Wir gehen an vielen Läden vorbei. Die Straßen kenne ich. Ich war mit meinem Bruder hier zum Weihnachtsmarkt. Vor McDonald’s hält ein Mann ein Schild hoch: ›Bekehrt Euch‹. Er will mir einen Zettel geben, auf dem was mit Jesus steht. Sophie zieht mich weiter, aber ich hätte den Zettel eh nicht gewollt. Ich frage Sophie, ob sie gerne in die Kirche geht. Sie findet die Frage komisch. Warum? Ich gehe so gerne in die Moschee. Am Hauptbahnhof ist ein Blumenladen. Sophie schlägt vor, dass wir meiner Mutter Blumen mitbringen. Das verstehe ich nicht. Sophie sagt, meine Mutter sei nett und dass man in Deutschland oft Blumen an nette Menschen verschenkt. Ich will aber nicht. Meine Familie braucht keine Blumen.«

Was Asmas Familie braucht: Geld. Einen Kardiologen für den herzkranken Vater. Arbeit. Platz. Eine richtige Wohnung. Hilfe bei Behördengängen. Hilfe bei Arztbesuchen. Hilfe bei den Hausaufgaben. Hilfe beim Einkaufen. Hilfe beim Leben.

»Wir nehmen die Bahn nach Rahlstedt. Wir verabreden uns für den nächsten Tag: Sophie und ihre deutschen Freunde vom KulturTeam machen ein Picknick mit Jugendlichen aus dem Gelben Dorf. Die letzten Male konnte ich nicht kommen, weil ich meinen Vater im Krankenhaus besucht habe. Er hatte eine Herzoperation. Jetzt ist er zu Hause. Morgen gehe ich zum ersten Mal zum Picknick. Ich freue mich.«

Worte zum Abschied: »Grüß deine Mutter, Asma.« – »Ja. Danke. Das war ein schöner Tag.«

 

Das KulturTeam ist eines der wenigen Hilfsprojekte in Hamburg, die sich explizit an jugendliche Flüchtlinge richten. Es wurde Anfang des Jahres von den Schülern Sophie Hall und Robin Groth ins Leben gerufen, um den Kontakt zwischen jungen Bewohnern des Rahlstedter Flüchtlingsheims Gelbes Dorf und deutschen Jugendlichen zu verbessern. KulturTeam organisiert an den Wochenenden Treffen, Picknicks und Ausflüge für Jugendliche verschiedener Kulturen. Dabei sollen sich Tandems zwischen einem deutschen Jugendlichen und einem Bewohner des Gelben Dorfs bilden, die regelmäßig Nachmittage zusammen verbringen. KulturTeam ist immer auf der Suche nach neuen Teilnehmern und Spenden. Informationen unter kulturteam-hamburg.de.